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Abschied nehmen

Abschied nehmen

Mein KFZ Mechaniker verlässt die Stadt. Seit 30 Jahren ist er da. Für meine wechselnden Autos, das dritte inzwischen. Und meine Ohren sind da für seine wechselnden Beziehungen, sprich Frauen. Auch drei. Und seinen Herzschmerz. Seit 30 Jahren! Wegen der vierten jetzt trennt er sich von meinem Auto, besser gesagt: von mir. Er zieht zu ihr! In eine andere Stadt!

Ich hasse Abschiede. Jedenfalls diejenigen, die mir an die Nieren gehen. Die Tränen in meine Augen schießen lassen. Insbesondere vor Männern, vor ihm! Könnte es sein, dass er mir wichtig geworden ist? Dass mein Herz sich eingeschaltet hat? Beinahe unbemerkt? Mehr, als ich dachte? Oder:

Erkenne ich erst jetzt, wie wertvoll diese "Beziehung" für mich war bzw. ist?

Über mein Auto hinaus? So ein Unsinn, sage ich zu mir selbst. Es geht um mein Auto! Wer kümmert sich denn jetzt um seine zunehmende Gebrechlichkeit? Da flüstert doch vorsichtig in mir so was mit, wie: wer kümmert sich denn jetzt um mich? Wenn er weg ist? So ein Quatsch! Denke ich gleichzeitig. Klar finde ich eine andere Werkstatt! Meine wohl vertraute Mutmachstimme. Aber nie wieder so eine wie seine. Andere KFZ-Mechaniker sind auch gut! NEIN! Keiner ist so wie er! Gefühl gegen Verstand.

Egal, wie es ist: Ich bin verdammt traurig.

Die Tränen fließen

Zum Glück kann ich sie laufen lassen! Sie schmelzen etwas in mir. Vielleicht den Widerstand gegen Abschied nehmen? Gegen die Vergänglichkeit aller Situationen und Dinge und Wesen? Öffnen meine Wahrnehmung für etwas, was mir kostbar geworden ist und was ich bis jetzt noch nicht sehen konnte. Eine Ahnung von "wesentlich" entfaltet sich mit ihnen in meinen Zellen. Ein Geschmack von Zartheit und Zerbrechlichkeit. Dieses Momentes. Eine Empfindung von versöhnlich sein mit dem, was nicht zu ändern ist.

Mein Herz sagt: trotzdem! Ich mag es nicht, dass er geht! Er lässt mich zurück! Und der Verstand: hey, was soll das, wir sind doch nicht verheiratet! Sei es, wie es will. Ich fühle mich verlassen. Gefordert, los zu lassen.

Über Jahre nehmen wir etwas selbstverständlich hin

Es ist wie ein Automatismus, als würde es ewig währen. Und plötzlich - oder auch weniger plötzlich, ist das Selbstverständliche weg. Nicht mehr verfügbar. Reißt eine Lücke in unser scheinbar so selbstverständliches Leben. Verstand steckt in diesem Wort "selbstverständlich" – ein interessanter Hinweis, vielleicht.

Ob wir den zu unserem Alltag dazugehörenden Freund oder die Freundin verlieren, durch Wegzug. Oder ein nahestehender Mensch einfach stirbt. So mir nichts, dir nichts. Tod kommt immer plötzlich, egal ob erwartet oder nicht. Ob die Ärztin, die immer da war und so gut getan hat, plötzlich ihre Praxis aufgibt, und ich mir eine neue suchen muss. Oder mein inzwischen groß gewordenes Kind meine Wohnung verlässt und mit Freunden zusammenzieht.

Auch wenn der Hund, die Katze stirbt, dieses lieb gewonnene Wesen einfach das Leben aushaucht. Oder wegläuft, nicht mehr auffindbar. Mein Körper, der immer zuverlässig funktioniert hat, wird spürbar zerbrechlich. Eine Funktion fällt aus. Ein Organ ist nur noch eingeschränkt tätig. Die Haare werden grau, oder machen sich rar.

Sogar materielle Dinge verabschieden sich. Auf einmal verschwunden. Dieses plötzliche Loch, das nicht mehr danach greifen können, erschreckt. Rüttelt uns auf. Die Geldbörse, immer an der gleichen Stelle, auf einmal weg! Der Schlüssel, verdammt! Wo hab ich den wieder hingelegt – weg. Verloren? 100.000 € an der Börse, wie mir grade ein Freund erzählte: verloren! Nicht selten werden wir in solchen Fällen total verunsichert. Für Momente, für lange. Geraten in eine Krise.

Eine Krise bedeutet immer: Etwas ist nicht mehr so, wie es war. Das Leben rüttelt sich durcheinander. Die selbst konstruierten Vorstellungen brechen zusammen. Die Selbstverständlichkeit entlarvt sich selbst als Trugschluss. Die vermeintliche Sicherheit entpuppt sich als Illusion.

Nichts bleibt, wie es ist

Alles verändert sich ständig. Wie können wir damit leben?

Eigentlich können wir das gar nicht. Und erst recht wollen wir das überhaupt nicht. Solange der Verstand die Regie führt, ist das so. Solange wir den Gedanken mehr Macht geben, unseren Vorstellungen, Konzepten über die Wirklichkeit, als der Wirklichkeit selbst, leben wir immer auch an ihr vorbei. Viele von uns tun das, unbewusst. Wir können gar nicht anders.

Das Gehirn ist so konzipiert, dass wir uns identifizieren mit dem, was es uns anbietet. Wir halten unsere Ideen, Vorstellungen, Konzepte für bahre Münze. Nehmen Gedanken, Vorstellungen als die Wahrheit hin und lassen uns permanent von ihnen in die Irre führen. Das geschieht. So lange, bis wir wachgerüttelt werden.

Durch Verlust, egal welcher Art. Bis wir gezwungen werden, hinter die Fassade unserer Vorstellungen und Konzepte und Gedankenmuster zu blicken. Gezwungen, in die Wirklichkeit hineinzufallen, wie sie ist. Hineinzufallen in die Lücke, die sich auftut, in den Körper, der erschüttert wird, die Tränen, die beginnen zu fließen, die Empörung, die sich Bahn bricht, in das Herz, das trauert.

Ständig sind wir gefordert, Abschied zu nehmen. Viele kleine Abschiede, täglich. In jedem Moment! Es lohnt sich, diesen Gedanken auf der Zunge zergehen zu lassen. Sich ihm zuzuwenden. Damit zu experimentieren. Ihn mit in den Tag hinein zu nehmen und zu prüfen.

Einatmen, ausatmen – dieser Atemzug ist vorbei

Ein neuer entfaltet sich. Ganz anders. Jeder Moment ein geboren werden und sterben, ein loslassen.

Jedes Ding, jedes Wesen, jede Pflanze, jeder Mensch – nichts bleibt selbstverständlich und da! Wir können nichts festhalten. Und je mehr wir das versuchen, desto enger und starrer werden wir. Desto mehr trennen wir uns von dem Reichtum und der Vielfalt des lebendig Seins. Fühlbar, ganz körperlich, sinnlich. Ständige Veränderung, in uns, um uns herum. Nichts gehört uns wirklich auf Dauer.

Wie kostbar werden die Dinge und Lebewesen und Menschen, wenn wir wissen, dass sie uns nicht gehören?

Dass wir keinen Anspruch darauf haben für ewig? Auf nichts! Wenn uns klar wird, dass alles Leihgabe ist, bis wir den letzten Atemzug ausgehaucht haben. Wie wertvoll wird dieser Moment, den wir nur zum atmen haben? Dieser Körper, der uns für eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht? Diese Tasse, die ich in der Hand halte und die schon zerbrochen ist. Doch in diesem Moment enthält sie den Tee, der meine Hände so wundervoll wärmt und meine Geruchsknospen zum Erblühen bringt? Und meinen Körper von innen nährt und erfrischt? Im nächsten Moment fällt sie vom Regal und zerspringt in tausend Einzelteile. Unwiderrufbar. Tot. Als diese Tasse.

In jedem Moment ist die Dimension von Abschied ganz sinnlich, körperlich und gedanklich zu erfahren. Diese Bewusstheit verändert unseren Bezug zu den Dingen und Wesen und Menschen, denen wir begegnen. Sie verändert unsere Lebenshaltung grundlegend. Sie vertieft unsere Fähigkeit, dieses einzigartige Leben zu erfahren in jedem Moment. Sie bereichert jeden Kontakt. Sie klärt unsere Konzepte und ent-müllt unsere Vorstellungen von dem, wie die Dinge sein sollen oder müssen und wie wir denken dass wir sein sollten und müssten und doch nie so können. Sie bringt uns ganz konkret mit der Wirklichkeit in Berührung, wie sie ist. Jetzt. In diesem Moment.

Es gibt nur diesen Moment. Er enthält alles, diesen Atemzug, diesen Herzschlag, diesen Schmerz, dieses Sehnen, dieses Straucheln, diese Liebe.

Die einzige Chance, die wir haben, Abschied zu bewältigen, ist: ihn zu erlauben. JA, ihn zu leben. Abschiedlich leben ...

... mit den Widerständen des Verstandes, dem Schmerz des Herzens, den Tränen, die aus den Augen schießen, uns einzulassen und mitzufließen mit dem, was sowieso bereits geschieht. Hierin liegt der Schlüssel. Denn dann beruhigt sich alles. Und wir öffnen uns erneut: für diesen Moment. Für das Leben. Für neue Möglichkeiten. Bis wir uns verabschieden. Vollständig, reich fühlen wir uns dann, wenn werden und vergehen, kommen und gehen als wahr anerkannt werden. In jedem Moment. In diesem jetzt.

Ich atme aus und lasse los, diesen Atemzug. Ich freue mich auf den neuen frischen – JETZT!

Ich verabschiede mich von Ihnen.